Archiv 2016

Exkursion/Führung

am

16.04.2016

Flur- und Grenzgang-Wanderung durchs Wirtheimer Feld und am Beinhards

Samstag, 16. April 2016, 5 Uhr – es regnet stark, 9 Uhr – es regnet stark, 10.30 Uhr – es regnet immer noch stark. Wird überhaupt jemand bei so einem Wetter zur Grenzgang-Wanderung, die um 11 Uhr beginnen soll, kommen? Sicher nicht mehr als fünf. Aber weit gefehlt. Am Treffpunkt hat sich eine beachtliche Anzahl an Regenschirmen eingefunden. Nach der Teilnehmerliste sind es 31 Personen, die sich nicht von den widrigen Umständen abhalten lassen. Sie alle sind gespannt auf die Ausführungen von Dr. Karsten Brunk, dem Vorsitzenden des Rodheimer Geschichts- und Heimatvereins (RGHV), der sie auf eine Wanderung durch die Zeit und die nordwestliche Gemarkung von Rodheim mitnehmen will. Dabei wird er die Teilnehmer zu zahlreichen historisch interessanten Punkten führen, die manchem vielleicht noch nicht bekannt sind.

Die Exkursion beginnt an der Kreuzung von Mainzer Straße und Kreuzweg und damit gleich an einer geschichtlich interessanten Stelle, denn beide Straßen waren früher wichtige, zumindest regional bedeutsame Verbindungswege. Der Kreuzweg dürfte schon seit der römischen Zeit bestehen und hat die römischen Stützpunkte in Heldenbergen und Okarben mit dem Kapersburg-Kastell verbunden. Die Mainzer Straße führte seit dem Hochmittelalter von Mainz bzw. Frankfurt nach Friedberg und weiter nach Norden.

Die Tour folgte zunächst ein Stück dem Kreuzweg, wo nach wenigen Metern der Standort einer ehemaligen Ziegelei aus der Zeit um 1900 passiert wurde. Heute ist hier nur noch eine ebene Fläche zu erkennen, die sich von dem sonst leicht abfallenden Gelände unterscheidet und nur dem geübten Auge auffällt. Karsten Brunk nennt weitere Beispiele, die deutlich machen, dass aufgrund der Ton- und Lehmvorkommen in diesem Teil der Rodheimer Gemarkung das Töpferhandwerk und Ziegeleien eine nicht unerhebliche Bedeutung hatten. So gab es an der Waldstraße von 1854 bis 1885 die sog. Ziegelhütte (heute Landwirtschaft) von Konrad Knaf und am Kreuzweg die Lettkaut, in der Ton und Lehm abgebaut wurde.

Südlich des Kreuzweges erstreckt sich der Wirtheimer Grund. Diese Flurbezeichnung weist auf den ehemaligen Ort bzw. Weiler Wirtheim hin. Er lag am Salzpfad, der in Nord-Süd-Richtung von Bad Nauheim kommend weiter nach Burgholzhausen führte. Der Name lässt vermuten, dass der Weg auch dem Transport von Salz aus der Saline in Bad Nauheim diente. Wirtheim wurde bereits in der Mitte des 14. Jahrhunderts aufgegeben (sog. Wüstung). Der Grund dafür war eine große Pestepidemie, der viele Menschen in der Region zum Opfer fielen. Die Bevölkerung wurde dadurch so stark dezimiert, dass das bisher bebaute Land nicht mehr im vollen Umfang genutzt werden konnte. So wurde der Ort ebenso wie die anderen Wüstungen um Rodheim (Stürzelheim, Leichen, teilweise auch Ober-Petterweil) aufgegeben und die wenigen verbliebenen Menschen in Rodheim angesiedelt.

Vom Wirtheimer Grund geht die Wanderung – der Regen hat inzwischen aufgehört – weiter auf dem Kreuzweg in westlicher Richtung, bis wir die Weinstraße erreichen. Der Name leitet sich von dem Wort „Waan“ (hess. für Wagen) ab und hat somit nichts mit Wein zu tun. Diese Straße war spätestens seit dem frühen Mittelalter eine der bedeutendsten Nord-Süd-Verbindungen in Deutschland. Zugleich markiert sie etwa den westlichen Rand des ehemaligen Wirtheimer Rodungsgebietes. Der Weinstraße folgend erreichen wir die sogenannte Ochsentränke, die heute ein Feuchtgebiet ist. Früher gab es hier einen Teich, der als Viehtränke genutzt wurde.

Durch die Erläuterung während des bisherigen Teils der Exkursion ist deutlich geworden, wie stark sich die Landnutzung über die Jahrhunderte hinweg gewandelt und, damit einhergehend, sich auch die Bedeutung von Landschaft und Natur für die Menschen verändert hat. Dies geschah in Abhängigkeit von der jeweiligen historischen Epoche und den damit zusammenhängenden Möglichkeiten der Menschen, sich Dinge zu Nutze zu machen. Aufgrund fehlender Maschinen und eingeschränkter Transportmöglichkeiten konnten die wesentlichen Rohstoffe wie Holz, Ton oder sonstiges Baumaterial in der Regel nur aus der unmittelbaren Umgebung beschafft werden. Fast verborgene Spuren dieser Bewirtschaftung und Landnutzung konnten wir heute Vormittag beobachten.

Rechtzeitig zur Mittagspause gegen 13 Uhr erreichen wir die Rotkäppchenhütte, in der vom RGHV-Vereinsvorstand zubereitete Brötchen mit Fleischkäse oder Käse sowie Kuchen und Getränke gereicht werden. Nachdem sich alle gestärkt haben, wandern wir – inzwischen bei schönstem Frühlingswetter! – weiter entlang der nördlichen Rodheimer Gemarkungsgrenze, die dem Verlauf des Lohgrabens am Beinhardswald folgt. Karsten Brunk erläutert, dass es wegen des Verlaufs dieser Grenze insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert immer wieder zu Streitigkeiten kam, die wiederholt zu tätlichen Auseinandersetzungen führten, wie sich aus den Akten ergibt. In einem besonders bemerkenswerten Fall wurde vom Verwalter auf dem Beinhardshof sogar der Lohgraben umgelenkt und auf Rodheimer Gemarkungsgelände geleitet, um das Gebiet von Solms-Rödelheim, zu der der Beinhardswald gehörte, zu vergrößern.

Endpunkt des historischen Teils der Wanderung ist der sog. Dreimärker am östlichen Ende des Beinhardswaldes. Dieser 1710 gesetzte dreieckige Grenzstein markiert die Grenze zwischen den Gemarkungen Beinhards (ehemals Solms-Rödelheim), Nieder-Rosbach (ehemals Hessen-Darmstadt) und Rodheim (bis 1806 Grafschaft Hanau).

Am gleichen Standort lenkt Karsten Brunk, als abschließendes „Schmankerl“ der Wanderung, noch das Augenmerk auf ein imposantes Naturdenkmal (als solches aber nicht gekennzeichnet), nämlich die stattliche Hute-Eiche am südöstlichen Rand des Beinhardswaldes. Leider ist dieser Baum in den letzten Jahrzehnten so stark von dem sich ausbreitenden Waldsaum umschlungen worden, dass er als herausregendes Monument kaum mehr in Erscheinung tritt. Eine behutsame Entfernung des buschartigen Niederwaldes unter seiner Baumkrone würde diese wohl mächtigste Eiche in der Rosbacher Gemarkung wesentlich besser zur Geltung kommen lassen.